Notes
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Hans-Thies LEHMANN ist Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, D-60323 Frankfurt am Main ; e-mail : h.t.lehmann@tfm.uni-frankfurt.de
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Judith Wilke : Brechts “Fatzer”-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld : Aisthesis Verlag, 1998, S. 10.
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Bertolt Brecht : Fatzer, in : Werke, Band 10.1., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin und Weimar, Frankfurt a.M. : Aufbau-Verlag und Suhrkamp, 1997, S.477.
1Beliebt ist die Floskel, Theater liefere Denkanstöße, durchaus im Sinne einer Wertschätzung vorgebracht, umgekehrt aber auch die polemische Wendung gegen kopflastiges Theater. Wie eng die Beziehung zwischen Theater und Theorie, Performance und Denken wirklich ist, wird jedoch selten bedacht. Und hier gibt gerade Brecht eine Menge zu denken. Von welcher Art diese Beziehung – nicht nur bei Brecht – ist, dafür existiert freilich keine einfache Formel. Beliebt ist der Hinweis auf die etymologische Verwandtschaft von Theoria und Theatron, selten jedoch fragt man nach den tieferen Gründen und Abgründen dieser komplizierten und verwirrenden Beziehung, die Denken, Wissen, Theorie hier und Theater, Performance, szenisches Spiel dort unterhalten.
2Zunächst ist eine gewisse Emanzipation der Theorie im Theater zu beobachten. Sie muss sich nicht mehr schamhaft verhüllen, sondern tritt als solche hervor. Seit langem, spätestens seit der definitiven Entgrenzung des auf das Drama zentrierten Theaters genießen Versuche Asylrecht, auf der Bühne nicht primär dialogische Textstrukturen fiktiver Figurenrede, sondern andere : lyrische, narrative, dokumentarische und eben auch Theoria, theoretischen Diskurs szenisch zu realisieren. Unmittelbar zu realisieren, denn mittelbar geschah dies, wie sich versteht, natürlich schon immer. Sehen wir uns – ohne Vollständigkeit anzustreben – ein wenig um, so mag man an den letzten großen Bühnenauftritt von Einar Schleef vor seinem Tode denken : Er las, schrie, flüsterte, beschwor Nietzsche-Texte aus Ecce Homo – bei aller hochidiosynkratischen, persönlichen Leidenschaft und Subjektivierung doch ein philosophischer Text. Man mochte hier an Foucaults Bemerkung denken : « Es gab die Philosophie als Roman (Hegel, Sartre) ; es gab die Philosophie als Meditation (Descartes, Heidegger) ; nun entsteht nach Zarathustra die Philosophie wieder als Theater. Nicht als Reflexion über das Theater oder als Theater voller Bedeutungen. Sondern eine Philosophie, die zur Bühne mit Personen und Zeichen geworden ist : Aufführung eines einzigen unwiederholbaren Ereignisses. »
3Theorie szenisch zuzurichten oder zu nutzen ist, bei näherem Hinsehen, so selten nicht wie man zunächst meinen möchte. Nur ein paar willkürlich herausgegriffene Beispiele : Denkendes Theater seit Brecht, vieles dokumentarische Theater näherte Theorie und Theater einander an. Einer der Urväter der historischen Avantgarde im Theater, Edward Gordon Craig, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ernsthaft den – am Ende nicht realisierten – Plan verfolgt, Platons Dialoge in Freilichtaufführungen zu präsentieren ; Brechts Messingkauf ist szenisch verwirklichte Theatertheorie ; der deutsche Regisseur Christof Nel hat ein Projekt zum Witz-Buch von Sigmund Freud (Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewussten) realisiert ; in einer Performance 1992 im Theater am Turm trat John Berger mit eigenen kritischen Texten auf. Peter Brook hat in den Pariser Bouffes du Nord einen Abend gestaltet, an dem Schauspieler Texte aus großen Schauspieltheorien inszeniert darboten. Schon einige Jahre vor Schleef hat der österreichische Regisseur und Kopf der Wiener Theatergruppe « Angelus Novus » in Frankfurt mit Studierenden ein Projekt mit Nietzsches Ecce Homo veranstaltet (an dem u.a. Kattrin Deufert teilgenommen hat, mittlerweile zusammen mit Thomas Plischke als Performancekünstlerin bekannt geworden). In vielfältiger Weise bringt zudem das postdramatische Gegenwartstheater Sprachformen hervor, in denen der Theoriediskurs in paradoxer Weise verfremdet als Figurenrede erscheint. Die Texte von René Pollesch funktionieren weithin so, dass Theorie sprachlich verwandelt wird in scheinbar subjektive Aussage. Zuletzt brachte er einen Abend über Darwin heraus. Es gab erst kürzlich eine Aufführung mit dem Titel Karl Marx : Das Kapital, Erster Band von Helgard Haug & Daniel Wetzel/Rimini Protokoll.
4Diese und andere Beispiele motivieren dazu, die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Theorie einmal grundsätzlicher aufzuwerfen. Bevor ich jedoch diese Überlegung konkretisiere am Beispiel eines herausgehobenen Moments in Bertolt Brechts Praxis, nämlich am Höhepunkt und zugleich der Grenze der Phase des Lehrstückmodells, der Arbeit an Fatzer, werde ich einige Schritte zurück tun, um den Raum dieser Problematik genauer zu bezeichnen.
5Für Aristoteles, der den europäischen Diskurs über Kunst zutiefst geprägt hat, ist die Tragödie eine im Grunde para-logische Wirklichkeit. Sie kann zwar nicht reiner Logos sein, ihr Wert aber besteht in ihrer Nähe zum Logos. Alle Kategorien der Tragödienstruktur – Peripetie, Metabolé, Anagnorisis, angemessene Größe usw. – sind lesbar als parasitär logische Konzepte. Die Theorie des dramatischen Verlaufs steht in der Poetik im Dienst der Idee, die Narration der Tragödie unter das Gesetz einer erkennbar werdenden logischen Struktur zu stellen. Die Tragödie, so denkt Aristoteles, bringt eine verborgene Ordnung der Dinge zum Vorschein, einen Logos der Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit, der sonst nicht deutlich erscheinen würde. Sie artikuliert eine Denk-Ordnung, ist Anlass einer Mathesis, eines Lernens. Nicht nur bringt sie den Rezipienten zu solcher Mathesis, mit dem Begriff des Wiedererkennens, Anagnorisis, kontituiert Aristoteles auch das Subjekt der Tragödie, den Heros selbst wesentlich durch einen Erkenntnismoment.
6Tragödie ist in ihrem Kern – Theorie, theorieförmig.
7Es ist jedoch in einem gleich mehrfachen Sinn ein Danaer-Geschenk, das diese aristotelische Geste der Kunst und im besonderen dem Theater dargebracht hat. Man kennt die berühmte Feststellung der Poetik, die Tragödie sei « philosophischer » als die Geschichtsschreibung, weil, so Aristoteles, die Geschichte nur festhalte, was wirklich geschehen sei, die Tragödie aber was nach Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit stets oder in der Regel geschehe, Tragödie zeigt also nicht bloße Empirie, sondern eine logische Ordnung. Einerseits unterstellt diese Geste die Tragödie, indem sie sie scheinbar erhebt, umso unwiderstehlicher dem absolut primären und überlegenen Diskurs der Philosophie, der Jurisdiktion des abstrakten Begriffs. Nur dieser kann am Ende über den Wert der Tragödie befinden. Zum zweiten verpflichtet dieses Lob die Tragödie auf ihr philosophischeres Wesen. Seitdem galt, dass die Dramaturgie, die systasis pragmaton, dazu dient, ein Gesetz zur Anschauung zu bringen, einen Logos. Es geht um die Logifizierung des Ästhetischen, das von nun an als ein Para-Phänomen des Logos verstanden wird. Zum dritten ist die nur auf den ersten Anschein paradoxe Folge, dass in der Poetik der Tragödie das Theater, das sie darstellt, gerade gedanklich ausgemerzt wird. Die berühmte Katharsis geschieht, wie Aristoteles eigens vermerkt, auch ohne Aufführung, beim Lesen der Tragödie. Die Aufführung selbst (Opsis) – also das Theater am Theater, das was an ihm nicht Text ist – gilt überhaupt als das Kunstloseste, Wertloseste an der Tragödie. Am Theater stört eigentlich das Theater. Es ist überflüssig. (Und es fehlt nicht viel und Aristoteles sagt, man brauche es eigentlich nur für die Dummen. Diese werden durch den kindlichen Spaß am Wiedererkennen sozusagen zum Denken verführt, während der Philosoph Anreize nicht bedürftig ist und von allein denkt.) Auch wenn man berücksichtigt, dass in der Antike das individuelle Lesen noch lautes Lesen war, also ein kleiner Rest des Sinnlichen, die Dimension der Stimme, denn doch auch ohne Theater übrigbleibt – gerade darum geht es Aristoteles nicht, sondern darum, dass aus der Tragödie ein Logos ablesbar und ablösbar ist, der eigentlich ihren Wert konstituiert.
8Die großen philosophischen Entwürfe des Theaters, zumal des Tragischen und der Tragödie haben auch in der Neuzeit immer wieder den tiefen Zusammenhang des Theaters der Tragödie mit dem Denken betont. Doch geschah dies meist in solcher Weise, dass man das Schöne in der einen oder anderen Variante als « das sinnliche Scheinen der Idee » (Hegel) auffasste. Theater ist dem klassischen Denken zufolge wohl im Kern Philosophie, und aus eben diesem Grunde stets auch wieder in den Begriff rückübersetzbar, den es ja am Ende mit seinem schönen Schein illustriert. Die Idee (Wirklichkeit als begrifflich durchdrungene) soll jedoch in der Kunst gerade nicht in ihrem eigenen Milieu des Begriffs, sondern vielmehr durch und durch versinnlicht erscheinen. Das Ideal des Schönen verlangt also einerseits als Kern des Schönen ein Theoretisches – Das Schöne ist das Symbol des Sittlichen, so Kant –, Kunst soll jedoch zugleich gerade diesen Anschein des Denkens ebenso auch vermeiden. Nicht nur das gleichsam in die Kunst nur « importierte » Denken, auch der im engeren Sinne ästhetische Konstruktionsprozess, der ja als ein Denken sui generis zu verstehen ist, darf der klassischen Kunstvorstellung zufolge gerade nicht zur Erscheinung kommen, vielmehr löscht die Kunst so wie sie das in ihr inkorporierte Denken verkleidet, im Idealfall auch die Intentionalität, die Mechanismen das Denken des ästhetischen Konstruierens aus – « schlank und frei wie aus dem Nichts entsprungen » bietet sich, so Schiller, das Schöne dem entzückten Blick dar.
9Obgleich nun aber der sinnliche Schein zu dominieren hat, gehört doch zum klassischen Kunstverständnis, dass das Ästhetische keinesfalls nur um seiner Schönheit willen da sein kann, sondern eben zugleich Theoria beinhaltet, symbolisiert, metaphorisiert, allegorisiert. Genau hier liegt indessen die fundamentale Inkonsistenz der klassischen Ästhetik : Sie verdrängt, was sie doch weiß, dass nämlich Denken in der szenischen Realität seinen Charakter, seinen diskursiven Status radikal verändert. Was als Wahrheit des Denkens intendiert sein mag (vom Autor, vom Werk, im gedanklichen Bau des Werks), verliert sich mit Notwendigkeit im Spiel der Form. Die Folge dieser Statusverschiebung ist ein tiefer Bruch mit jedem Ansinnen auf eine tiefere Wahrheit (Theoria) des Ästhetischen. Gehen wir, um dies zu erläutern, von dem einfachen Modell eines im Zusammenhang des Szenischen zur Darstellung kommenden Gedankens aus. Der Gedanke wird, schon in Hinsicht auf den Sprechenden, mit Körpergestik und Stimme aufgeladen und transformiert sich dergestalt in ein durch und durch fragwürdiges, nämlich in der Szene sogleich befragbares, höchst vorläufiges Denken. Ist alle Sprache zugleich Ausdruck und Setzung von Tatbeständen, dann schiebt sich im Theater stets die sinnferne Ausdrucks-Dimension vor die Dimension, eine Setzung zu sein. Der Gedanke ist, im Spiel der Bühne artikuliert, schon nicht mehr behauptete Idee und Gedanke, sondern wird zum Moment und Einsatz eines Spiels im mehrfachen Sinn des Worts. Als Denken hat er auf der Bühne keine größere Tiefe mehr als eine Handbewegung, eine Sprechpause, die nächste beste Geste. Er wird zurückgekettet an den Sprechenden, durch die Konstellation der Handlung mit ihrer Motivationen ebenso verunreinigt wie durch die Anbindung an die Physis des Akteurs. Er wird zudem stets erfahren als nur aus einer Situation heraus entstanden und also als nur in dieser gültig. Damit koppelt er sich vom Anspruch auf Wahrheit ab und lässt im Kontext einer theatralen Dramaturgie seine agonale, seine expressive, seine nur situativ begründete Dimension bzw. Charakteristik hervortreten – auf Kosten seines Wahrheitsgehalts als Theorie.
10Es geschieht damit dem Denken nur, was allem Ernst auf der Bühne widerfährt. Er wird gleichsam ausgehöhlt, jede vorgegebene Geltung zerfällt oder wankt. Denken, auf die Szene gebracht, wird « eingewickelt ». Sein Anspruch auf Gültigkeit ist in Schwebe gebracht, es gilt der Satz : « Die Sinnlichkeit der Bühne ist von Hause aus dem Sinn nicht wohlgesonnen ». Schon die Temporalisierung moduliert entscheidend das Gesagte, macht aus jedem fixen, fixierten Satz ein momentanes Ereignis. Die strukturelle Ereignishaftigkeit des Theaters bringt somit eine theatrale Ent-Ernstung aller Wahrheit mit sich. Ein auf der Bühne ausgesprochener Satz, sei er auch rezipiert als tiefe Wahrheit, ist zugleich stets geladen mit der Möglichkeit, schon im nächsten Augenblick sich zu dementieren, dementiert zu werden. Das hängt mit der Verfassung des Theaters oder der Performance als Live-Art unmittelbar zusammen, insofern die Temporalität des Theaters insgesamt die Zeit der Besucher und die Zeit des Werks (der Aufführung) unmittelbar vereint. Der Gedanke wird hier zum Sprech-Akt, jedoch zu einem solchen, dessen Kontext nicht gewiss ist – er entspringt ja einer in die Zukunft offenen Dimension, dem Moment « jetzt » im Lauf einer Performance oder einer Aufführung, die noch offen ist gegenüber dem nächsten « jetzt ». Darin besteht ein Spezifikum der Aufführung : sie ist als Live-Vorgang tatsächlich nicht determiniert, die Theatersituation (wenn schon nicht die dargestellte szenische Situation) kann eine unvorhergesehene Wendung nehmen. So kann auch der Sinn des Gedankens, der in sie eingebettet ist, nicht abgeschlossen sein, und genau dies ist es, was das Live-Theatererlebnis mitträgt und über alles Erkennen hinausträgt. Keine Setzung, keine Thesis, keine Behauptung, keine Bedeutung und kein Sinn, der nicht im Prozess der Performance allererst als ungesichert erfahren würde. Ich möchte dies den grundlegenden Situationismus des Theaters nennen. Viele gegenwärtige Theaterformen suchen diese Situation, die Theater dem Prinzip nach immer ist, wieder ins Zentrum zu rücken und nähern sich damit den Absichten an, die einst die Performance Art ins Leben gerufen hat.
11Halten wir hier inne und vergewissern uns des doppelten Resultats, dass im Denken des Theaters eine sonderbare Ambivalenz sichtbar macht. Einerseits wird, und das ist das eine Teil des antiken Erbes, darauf insistiert, dass Theater im Kern – und als sein Wesentliches – ein Denken beinhaltet, illustriert, manifest macht. Zugleich aber erscheint Denken für das Theater gleichsam als Tabu-Zone, als red light district, verbotenes Land, das es nicht betreten darf, ohne seine Reinheit als Kunst zu verlieren und sich den Vorwurf der platten Didaxe, oder der künstlerischen Schwäche zuzuziehen. Dieser Problematik des Theaterbegriffs antwortet nun komplementär eine des Diskurses der Theorie selbst. Haben sich doch Philosophie und Theorie ihrerseits immer schon und oft zu ihrem Leidwesen von einer ihr immanten Dimension von Theatralität, Inszenierung und mindestens Rhetorizität heimgesucht gefunden, die sie umsonst abzuschütteln suchen. Was drastisch in der traditionell gebräuchlichen Dialog-Form vielen Denkens manifest ist, bringt nur eine viel umfassendere Problematik des Theorie-Diskurses auf den Punkt : nämlich die immanente Theatralität, die im Grunde szenische Verfassung von Denken selbst, die Foucault bei seinem Hinweis auf die Philosophie als Theater vor Augen hat.
12Mit einem großen Sprung wenden wir uns nach dieser Rückvergewisserung über den theoretischen Beginn des von Brecht zu Unrecht, aber nicht nur zu Unrecht « aristotelisch » genannten Theaters dem Werk Brechts zu, von dem man nach wie vor die größten Aufschlüsse über das Verhältnis von Theorie und Theater erwarten kann. Denn so viel ist von Anfang an klar. Brecht gehörte fraglos zu denjenigen Theaterleuten, die am radikalsten sich um eine wenn nicht Auflösung so doch entschiedene Verlagerung der Relation Theater-Theorie bemüht haben. So radikal, dass er an einem bestimmten Punkt auf eine Art von Grenzauflösung zwischen beiden Diskursformen zusteuerte, die es ihm, kaum zufällig, verwehrte, das Projekt Untergang des Egoisten Johann Fatzer in der einen oder anderen Form zu vollenden.
13Fatzer sollte die Geschichte von vier Deserteuren im Jahre 1918 erzählen, die auf die Revolution hoffen, jedoch bei ihren Versuchen, sich im Untergrund der Stadt Mülheim an der Ruhr Nahrung zu verschaffen, und auch über andere Fragen in Konflikte untereinander geraten und – so scheint es nach den Skizzen für den Schluss – am Ende aufgespürt und getötet werden. Einer der vier ist Johann Fatzer, einerseits der « findigste » unter ihnen, andererseits ein radikaler Egoist. Die eine Eigenschaft ermutigt und stärkt das kleine Kollektiv, die andere führt die Spaltung der Gruppe herbei, die Fatzer sogar am Ende liquidieren will.
14Fatzer blieb ein Fetzen. Brechts Arbeit daran zwischen 1926 und 1931 führte nicht zu einem Stück. In dieser Zeit schrieb er jedoch andere Lehrstücke, zumal die Maßnahme, schrieb Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Mahagonny und anderes mehr. Diese Stücke waren also zu vollenden. Im Fatzer aber verständigte Brecht sich in solcher Radikalität über die eigenen Selbstwidersprüche in politischer und theaterästhetischer Hinsicht, dass er – dies ist die These, die ich hier andeuten will – an einen Abgrund geriet und an dem Versuch scheiterte, den Konflikt von Ego und Kollektiv noch überzeugend auszutragen, da er hier ein Verständnis von Theater und Theorie sowie von ihrem Verhältnis visierte, das weit über die Grenzen nicht nur des epischen Theaters, sondern auch des Lehrstückmodells hinauswies. Worin bestanden, wenn man zunächst ganz künstlerisch-praktisch fragt, die dramaturgischen und politischen Hinderungen ?
15Das erste Problem ist, wenn ich recht sehe, dass in der geplanten Dramaturgie schon die Unmöglichkeit, eine Fabel zu erzählen, eingebaut war. Brechts kohärentester Versuch, diese Fabel zu formulieren, beschreibt nur den Weg der Handlung bis zur Peripetie, als die Genossen Judas Verrat üben und Fatzer verleugnen. Verrat ist hier Ur-Schuld und politische Notwendigkeit zugleich, und Heiner Müller hat Brecht an dieser Stelle aufgenommen. Brecht lässt den endlichen Ausgang der Handlung im Versuchsstadium. Fatzer konnte keine Fabel finden, und dies zeigt sich an der Auffälligkeit, dass es gar keine Instanz der Erzählung gibt (in der Maßnahme wird sie konstruiert). In beiden Stücken steht am Ende eine Liquidierung, doch sind am Ende von Fatzer anscheinend die Beteiligten der Gruppe sämtlich tot, so dass höchstens nur der Chor der Toten als Subjekt der Fabelerzählung bliebe.
16Das zweite Problem war die Öffnung in die Theorie. So wenig einer sauberen Aufteilung in Arbeitsphasen Brechts ganz zu trauen ist – es scheint klar, dass er um 1928/29 darauf verfiel, den Komplex Fatzer in Kapitel aufzuteilen : « Geschlechtskapitel », « Todeskapitel », « Lähmende Gesichte », « Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse ». Ein parataktisches Nebeneinander, das an die Stelle einer hypotaktischen Teleologie der Fabel tritt, zeigt an, dass das Erzählen, das zur Fabel führen kann, in die Krise geraten ist. Das sind keine Akte mehr, vielmehr greift die Form aus dem Szenischen ins Diskursive über. Aus dem Plot wird werden thematische Abhandlungen oder eine Reihe von Schautafeln mit Gesten. Was man Theorie nennen muss, dringt in die Praxis des Theaters ein und radikalisiert brechts eigenes Prinzip der Durchsetzung des Dargestellten mit Formuliertem in einer Weise die die Möglichkeit einer Fabel-Darstellung untergräbt. In Brechts « Theater des wissenschaftlichen Zeitalters » hatte am Horizont gestanden die Destruktion des Dramatischen durch ein Theater, das dem Denken direkt Zugang zur Bühne gewährt und das mithin gegen das klassische Dogma des Denkens, das sich im Theater verhüllen muss, verstößt. Radikal durchgeführt, tendiert dieser Sog zur Unmöglichkeit einer ästhetischen Abschließung des Theaters und verlangt, das Theater als eine Praxis zu denken, die überhaupt das Ästhetische einer Fabel und einer Fiktion nicht mehr als Zentrum hat. Die Grenze, die den ästhetischen Bereich bei aller Nähe doch noch gegen den theoretischen abschirmte, wird in der Arbeit am Fatzer durchlässig. Theater soll hier Szene und sprachlich-rhythmisch skandierter Denkprozess in eins sein.
17Ebenfalls in die späteren Arbeitsphasen fällt – ein weiterer Aspekt der « Theoretisierung » des Theaters – die Ergänzung der Spielszenen, die Brecht das « Fatzerdokument » nennt, durch den « Fatzerkommentar ». Judith Wilke hat gezeigt, dass diese Unterscheidung von Dokument und Kommentar keineswegs als die zwischen einem Primär- und einem Sekundärtext verstanden werden kann, die Texte vielmehr „als eine Art diskontinuierlicher Umschrift des Fatzer-Stoffs auf dem anderen Schauplatz der Theorie » verstanden werden müssen [1]. Brecht zufolge sollen die Kommentare nicht etwa dazu dienen, das Gespielte autoritativ zu deuten, also Spiel auf die darin verborgene Theorie zu reduzieren. Ihnen kommt keine Autorität über das Spiel zu. Die Kommentare sind gerade nicht das letzte Wort von außen oder oben über das Spiel sondern dessen Bestandteil. Damit wird aber der « andere » Schauplatz der Theorie tendenziell ununterscheidbar vom Schauplatz der Theatererzählung.
18Ein Beispiel mag die Komplexität der Beziehung zwischen Theorie und Theaterspiel verdeutlichen, wie sie Brecht hier vor Augen stand :
19« Wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird. » Wahrlich handelt es sich in diesen nicht eben klaren Sätzen um eine eigentümliche Verschränkung von Theorie und Praxis, von Spiel und Denken. Es heißt nicht etwa, man gehe erst – zum Beispiel morgens – ins Pädagogium, um etwa den realen Verrat vorher durch und als Spiel zu üben. Nein, es wird vielmehr das Konzept « Aus-Üben » aus dem mentalen Status eines « Wollens » in die physischen Handlungen einer Szene transponiert. Was hier « Durchspielen » heißt (und was man sich als Spielen mit anderen vorzustellen hat), zeigt eine Statusmetamorphose des Handelns selbst an dergestalt, dass – ebenso wie im Begriff Aus-Üben – die szenische Wiederholung (das Spiel) gar nicht mehr klar vom singulären « Akt » zu trennen ist. Theater, das Spiel, « sagt » also – das ist der springende Punkt – gar nichts anderes als das « Reale » des Vorgangs selbst, es lässt nicht sozusagen die Theorie über das durchblicken, was als Spiel vor Augen steht, als dessen theoretische Deutung oder Kommentierung. Das Spiel sagt auch das Reale nicht vorher, eigentlich « bringt » es – gar nichts. Jedenfalls nichts im Sinne eines Lernens, im Sinne neuer theoretischer Einsichten, das Spiel ist nicht illustrierte Theorie, die dann aus ihm wieder ablesbar wäre. Vielmehr stellt es eine Art von Übersetzung des Mentalen ins Gestische her. Daher können die zitierten Sätze das Theaterspiel geradezu als Supplement des “realen” Tuns erscheinen lassen (« wenn einer will… dann geht er… und spielt durch… »). Theorie ist weder der Kern noch das eigentliche nachträgliche Resultat, sie ist durch und durch in den Gestus, die Szene verwickelt und davon überhaupt nicht als Wissen, Denken, These abzulösen. « Um seine Gedanken zu ordnen, liest der Denkende ein Buch, das ihm bekannt ist. In der Schreibweise des Buchs denkt er. » Das ist das Lesemodell des Theaters. Man darf übersetzen : « Um sein Denken des Politischen zu ordnen, spielt das Publikum sprachlich und gestisch einen theatralen Vorgang mit und durch, der ihm schon bekannt ist. In der Art und Weise der gestischen und sprachlichen Darstellung des Vorgangs denkt es. » Theorie im Theater heißt hier also : wohl mit und in dem Theater zu lehren, aber als Inhalt der Lehre nichts anderes als die Unmöglichkeit einer Lehre zu artikulieren, die sich vom Theaterprozess selbst abheben ließe. Wobei hervorzuheben ist, dass sich nicht etwa diese Unmöglichkeit ihrerseits wieder als Lehre fassen lässt.
20Es liegt auf der Hand, dass angesichts derart verschärfter Probleme der Darstellung alle Grundfragen des Theaters auf dem Spiel stehen. Wird das Lehr-Stück, wie man hier in aller Strenge sagen muss, wesentlich als Leer-Stück gedacht, das Tun als Spiel (das Handeln übrigens im Fatzer-Stoff zudem wesentlich als ein Lassen, nämlich ein Desertieren, die Handlungsform wesentlich als ein Warten, Warten auf Fatzer), so gelangt man zu einer Dramaturgie des « A-Thetischen », wie man mit Nikolaus Müller-Schöll sagen kann. Die Art und Weise der Präsenz von Theorie in einem solchen Konzept von Theater ist deren Ausbleiben, ihr Aufhören, ihr Übergang in Spiel und Geste.
21Es liegt nahe, dass unter diesen Bedingungen auch auf dem Spiel steht, was von der dramatischen Fabel noch verblieben ist. Die dramatische Kollision zerfiel Brecht unter der Arbeit am Fatzer immer mehr in Chöre, Monologe, Einzelstimmen. Er führte diese Arbeit an eine Grenze, wo sich das Ästhetische der Darstellung nicht nur kaum noch gegen die Theorie abheben ließ, sondern auch vom Dramatischen eines Fabelkonstrukts weg und in die Nähe des Rituals führte. Die wachsende Bedeutung der Chöre kann als Index einer Darstellungsweise verstanden werden, in der das Vorgefallene immer weniger als abgeschlossenes singuläres Ereignis in seiner auf das Ende der Fabel zielenden Logik dargestellt (episches Prinzip) und theoretisch aufgeschlüsselt (kommentiert) werden, sondern als ein Akt der Wiederholung vor und mit einer Gemeinde ausgestellt und quasi rituell wieder durchgespielt werden sollte.
22Dafür nur ein Fragment als Beispiel :
24Der Text verdient natürlich einen ausführlichen Kommentar. Deutlich aber und verblüffend ist, wie an die Stelle einer dramatischen Explikation (wie sie denn doch auch das epische Theater kennzeichnet), wie an die Stelle einer Episierung das Ritual einer Wiederholung tritt. Dieses Ritual klärt und erklärt gerade nicht – sondern mündet in ein Tableau, dem ausdrücklich und buchstäblich Unverständlichkeit eingeschrieben ist – und ein ominöser « Name ». Wo man die Klärung erwartet, wird man auf die Wiederholung, das erneute Durchspielen der Gesten als solches zurückverwiesen. Die Frage nach der Bedeutung des Theaters wird auf dieses selbst, den Vorgang des Theaters und des Betrachtens und Mitsprechens selbst zurückgeführt. Noch verblüffender ist vielleicht die Nuance, dass nicht nur Beurteilung, sondern der Sinn des Spiels überhaupt in keiner Weise vorgegeben ist. Kein Sinn, theoretisch Einzusehendes wird erst dargestellt und am Ende beurteilt. Vielmehr erfolgt die Darstellung, « damit/Ihr entscheiden sollt/Durch das Sprechen der Wörter und/Das Anhören der Chöre/ Was eigentlich los war, denn/Wir waren uneinig. »
25Indem die Worte wiederholt – und zugleich in gewisser Weise erst jetzt (im Theater) zum ersten mal – gesprochen und die Chöre gehört werden, stellt man überhaupt den Sinn und sogar den Inhalt der Ereignisse fest, « was eigentlich los war », was die Logik des Geschehens war, aber auch, was “lose” war, kaputt, und in seiner Losigkeit nicht mehr zusammenhing. All das soll erst im Theater entschieden werden, die Theorie ist nur in diesem Vorgang des Theaters selbst vorhanden. Es kann und muss auch erst jetzt im Theater entschieden werden, denn – « wir waren uneinig ». In den beiden Bedeutungen, dass die Beteiligten in der Fatzer-Handlung uneinig waren und dass sie sich über die Auslegung des Spiels ebenfalls uneinig waren. Das Stück entsteht erst im Moment seiner Verdopplung, seiner Rezeption, es wird in seinem Gehalt erst geschaffen durch das Ereignis der Darstellungszeremonie, die gemeinsam mit einem Publikum vollzogen wird. Damit ist der Raum eines Theaters jenseits des (Primats der) Repräsentation eröffnet. Theater gibt sich als Ritual und Ereignis, verabschiedet seine von Fest und Spiel, aber auch von Theorie, Wissen, Schule getrennte Verfassung als ästhetische Fiktion überhaupt.
26Hier ist, wie man sieht, das Verhältnis zwischen Theorie und Theater wirklich im Sinne des eingangs erwähnt Gedankens von Foucault zur Philosophie ganz neu gefasst. Theater hat hier keine Theorie darzustellen, es ist aber auch nicht konzipiert als ein Spiel, dessen innere Dichte und Fülle der Zeichen auf ein Denken, eine Theorie oder Philosophie hindeutet, die zu entschlüsseln wäre. Vielmehr sollen hier Theater und Theorie, das eine wie die andere, in einer ganz anderen Verfassung praktiziert werden. Ein Denken, das durch Spielen nicht repräsentiert wird, sondern sich allein im Spielen konstituiert ; ein Theater, das so sehr sich vom Vorführen einer Fabel oder einer Allegorie, so sehr von der Präsentation von Gedachtem entfernt, dass es nurmehr als Spiel existiert zwischen Zuschauern und Spielern, genauer : in einer Situation, in der beide fortwährend in die Position des anderen geraten, der eben noch Zuschauende jetzt spielt, der eben noch Spielende zuschaut. Dieses fortwährende Umschlagen und diese letztliche Ununterscheidbarkeit von Theorie und Theater hat Brecht an den Rand sogar des radikalen Lehrstückkonzepts gebracht. Er konnte Fatzer nicht zu Ende bringen, es blieb Fragment, Fatzer ist nicht gekommen, bis heute nicht. In der Provokation, auf dieser Linie weiter zu gehen, auch im Bewusstsein der Gefahr, das, was Theater so lange gewesen ist, womöglich ganz aufzulösen, liegt eine der bedeutendsten Provokationen, die das Werk Brechts noch immer bereit hält : ohne Vorurteile in jedem Moment das Theater neu zu denken.
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Hans-Thies LEHMANN ist Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, D-60323 Frankfurt am Main ; e-mail : h.t.lehmann@tfm.uni-frankfurt.de
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Judith Wilke : Brechts “Fatzer”-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld : Aisthesis Verlag, 1998, S. 10.
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Bertolt Brecht : Fatzer, in : Werke, Band 10.1., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin und Weimar, Frankfurt a.M. : Aufbau-Verlag und Suhrkamp, 1997, S.477.